Armenien - Ein Land bringt sich in Stellung
Zur selben Zeit, als Russlands Armee in der östlichen Ukraine ihre schwerste Niederlage hinnehmen muss, startet in der Nacht zum 13. September 2022 Aserbaidschan massive Angriffe auf das Staatsgebiet Armeniens und beschießt mit Artillerie und Drohnen armenische Städte und Dörfer.
Bereits 2020, als die Welt in ihren ersten Corona-Herbst steuerte, brach ein neuer Krieg in der umstrittenen Region Bergkarabach aus. Doch dass der Konflikt auch armenisches Staatsgebiet erreicht - damit hatte u.a. im südarmenischen Kurort Jermuk oder in der Stadt Goris bis zu jener Nacht niemand gerechnet.
Seither ringen Russland, die USA und die Europäische Union um Vermittlung. Aber angesichts eines Gasdeals bezeichnet die EU Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Aserbaidschan als „vertrauensvollen Partner“. Von der internationalen Gemeinschaft fühlen sich viele in Armenien allein gelassen.
In den Bergen, nur fünf Kilometer vom Ortskern von Jermuk entfernt, sollen noch immer aserbaidschanische Truppen patrouillieren. Armenien kämpft ums Überleben. Aufgeben und wegziehen wollen nur die wenigsten.
Reisepass, Bargeld - Kristina Iwanjan stopft beides in einen Rucksack, zieht eine dicke Jacke über ihren Schlafanzug und rennt los. Es ist kurz nach Mitternacht und der Himmel über Jermuk dröhnt.
Auf der Strasse, so erinnert sich Iwanjan später, seien ihr Menschen begegnet, die glaubten, die grellen Lichter in den Wäldern seien ein Feuerwerk. Ein Fest vielleicht, zu Ehren des südarmenischen Kurorts, in dem an jenem 13. September nach zwei Jahren Coronapandemie wieder Hochsaison herrscht.
Auch das «Olympia Sanatorium», ein mausgrauer Koloss mit 52 Zimmern, in dem Iwanjan als Managerin arbeitet, ist damals voll belegt.
Text: Anna-Theresa Bachmann
Als sie im «Olympia» eintrifft, habe das Personal die Gäste bereits die Treppen hinunterdirigiert, berichtet Iwanjan.
Tagsüber hatten sich die Besucher:innen in den unterirdischen Behandlungsräumen noch mit ätherischen Ölen verwöhnen lassen. Nun dient das dicke Kellergemäuer als Bunker, die Massagesessel und Sofas werden zu Feldbetten umfunktioniert.
Bald sei allen klargeworden, was Iwanjan längst vermutet hatte: Aserbaidschan greift - nach jahrzehntelangen Kämpfen um die Region Bergkarabach - armenisches Staatsgebiet an. Auch andere Regionen im Grenzgebiet zwischen Armenien und Aserbaidschan stehen grossflächig unter Beschuss. Ein Novum im Konflikt der beiden Länder.
Text: Anna-Theresa Bachmann