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MAYBE
TOMORROW
THERE WILL BE
WAR
AGAIN
Armenien, Jermuk, 03.12.22:
Strommast und Wegweiser zu einem Restaurant in Jermuk.
Seit den Angriffen im September ist das Leben in Jermuk ein anderes. Die meisten der etwa 6.000 Einwohner:innen sind zwar zurückgekehrt, die gröbsten Schäden beseitigt und viele Wellnesstempel wie das Olympia längst wieder geöffnet. Aber was dem Ort fehlt, sind: Tourist:innen, die in Frotteeschlappen schlüpfen, obwohl vor ihren Zimmerfenstern Militärlaster vorbeiknattern. Und das Urvertrauen in die Berge, in denen sich noch immer aserbaidschanische Truppen verschanzt haben sollen.
Die Natur hat Jermuk bis über die Grenzen Armeniens hinaus bekannt gemacht. Rings um die Stadt entspringen natürliche Mineralquellen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese wirtschaftlich erschlossen und es wurde eine Fabrik für Mineralwasser gebaut, die immer weiter expandierte. Heute gibt es die Flaschen an jedem Straßenkiosk in Armenien zu kaufen. Hauptexportländer sind Russland und die Vereinigten Staaten, wo die beiden größten armenischen Diasporacommunitys leben.
Auch die ersten Hotels und Sanatorien, wie das „Gladzor“, entstanden Mitte des 20. Jahrhunderts. So wurde Jermuk schon zu Sowjetzeiten nicht nur ein Kurort für Kriegsveteranen, sondern auch ein beliebtes Urlaubsziel.
Der Schnee bleibt für einige Zeit liegen und Aghvan 20, Hosep 18, Artur 16 aus dem Dorf Gndevaz vertreiben sich unweit des Jermuk Spa Resorts die Zeit mit Drifts in einem rostigen Lada.
Menschen mit Beinamputationen körperlich und geistig zu einem erfüllten Leben zu verhelfen - das ist das Ziel der in Hauptstadt Jerewan ansässigen NGO Oqni - armenisch für „Hilf!“.
Die Organisation, die sich für die Entwicklung von Prothesentechnologie in Armenien einsetzt, wurde 2021 von einem interdisziplinären Team aus Diaspora-Armenier:innen gegründet.
Arshak (49) interessiert sich für die kostenfreien 3D-gedruckten und maßgeschneiderten Prothesenabdeckungen von Oqni. Arshak nahm am Ersten Berg-Karabach-Krieg von 1992 bis 1994 teil und war zwanzig Jahre alt, als er bei einer Minenexplosion verwundet wurde. „Als das zweite Bein amputiert wurde, tat es weh. Ein Mann ohne beide Beine... Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, was mich erwartete“, gibt Arshak zu.
„Zum Glück halfen mir meine Freunde, und ich konnte mich schnell rehabilitieren. Mir wurde klar, dass das Leben weitergeht.“
Heute ist Arshak Mitglied der armenischen Para-Hockeymannschaft und des Rollstuhlbasketball-Teams.
Als Industriedesigner sah Shamil Sahabiev (39) nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine keine Zukunft mehr in Moskau, zog im Mai nach Jerewan und arbeitet fortan für Oqni.
Kerzen und Gebet: Soldaten während des Gottesdienstes in der St.-Gayane-Kirche in Jermuk.
Bahnenziehen und Kneipp-Therapie. Gäste des Jermuk Spa Resorts genießen die Ruhe.
Kristina Ivanians Schritte hallen durch den langen Kellergang. Vor der Tür mit der Aufschrift „Aromatherapie“ bleibt die Hotel-Managerin stehen und drückt sie auf. Ein süßlicher Geruch schlägt ihr entgegen. „Sternanis“, sagt Ivanian. In den Behandlungsräumen des „Olympia Sanatoriums“ hätten Ivanian und ihr Personal ihre überraschten Gäste in der Nacht einquartiert. Die Massagesessel und Sofas kurzerhand in Feldbetten umfunktioniert, während von draußen aus den Bergen lautes Dröhnen zu hören gewesen sei und grelle Lichter in den Wäldern aufblitzten.
Kristina Ivanian (38) ist Managerin des Olympia Sanatoriums und Jermuk Spa Resorts. In der Nacht zum 13. September versorgte sie Ihre Gäste in Schutzkellern und organisierte Evakuierungen aus der Stadt heraus. Bereits zwei Jahre zuvor half sie als Freiwillige während des 44-Tage Krieges in Berg-Karabach.
Kristina Ivanian pflückt die einheimische Weißdorn-Beere. 2019 galt sie als Arznei-Pflanze des Jahres. Vom Weißdorn sind vielerlei mythische und rituelle Bedeutungen aus unterschiedlichen Epochen überliefert. Verschiedene Bezeichnungen resultieren aus seiner Verwendung als Heckenpflanze zur Abgrenzung von Grundstücken und aus seiner Kraft, bösartige Geister abzuwehren.
Viktoria Gregorian arbeitet seit 1973 als Lehrerin in Jermuk. Geboren und aufgewachsen ist sie jedoch in Baku, Aserbaidschan. Sie lernte in der Sowjet-Union Deutsch und erinnert sich an eine Zeit, in der beide Völker friedlich nebeneinander her lebten. Nach den Angriffen im September verließ sie ihre Wohnung in Jermuk nicht. Jeden Morgen blickt sie aus ihrem Schlafzimmer auf die nun besetzten Berghänge.
Armenien, Jermuk, 09.12.22:
Im IT-Bereich wolle Narek (17) mal arbeiten, sagt er, so wie viele junge Armenier:innen. Zum Studieren müsste er Jermuk allerdings verlassen. Eine Universität gibt es nicht und erst recht keine hippen Start-ups, wie man sie überall in der armenischen Hauptstadt Jerewan findet. Er werde trotzdem wiederkommen, sagt Narek. Und bleiben. Jermuk sei schließlich sein Zuhause. Spätestens nach der Ausbildung wolle er seinen Wehrdienst antreten und die Stadt im Ernstfall gegen Aserbaidschan verteidigen. Ob er denn jetzt nach den Angriffen vor der Zukunft, vor dem Krieg keine Angst habe? „Nein“, sagt Narek, ohne zu überlegen. Was Krieg heiße, das habe er doch schon im September gelernt.
An diesem Nachmittag schart sich eine Handvoll Jugendlicher vor Computerbildschirmen und einem Beamer, aus den Lautsprechern dudelt englischer Pop. Das Jugendzentrum „Dolphins“, gründete sich selbst um das Bildungs- und Kulturangebot in Jermuk zu verbessern. Insbesondere nach den jüngsten Angriffen, wurde das Zentrum für viele ein Rückzugsort. Zum Programm gehören Tanzstunden mit armenischer Folklore und Kochkurse.
In Folge der Angriffe im September erhalten paramilitärische Trainingsprogramme im ganzen Land einen erhöhten Zulauf. In Jerewan, decken Kurse der Initiative VOMA, (kurz für Volk, Armee, Land, Festung) ein breites Spektrum an militärischen Fähigkeiten ab, darunter den Umgang mit Waffen (Im Bild - Attrappen von AK-47-Gewehren), Kampftaktiken, medizinische Notfallbehandlungen und Überlebenstechniken. Die Kurse richten sich an alle Personen über 16 Jahren. Ziel der Workshops ist es, die Bevölkerung auf das vorzubereiten, was viele Armenier:innen als unausweichlichen Kampf um das Überleben ihrer Nation ansehen.
Armenien, Jerewan, 06.12.2022
Eine Demonstrantin wird von Polizisten abgeführt und für mehr als drei Stunden inhaftiert. Der Protest in der Hauptstadt fordert den Transport des inhaftierten Anführers der pro-westlichen National-Demokratischen Bewegung, Varuzhan Avetisyan, aus dem Gefängnis in ein ziviles Krankenhaus aufgrund seiner kritischen gesundheitlichen Verfassung.
Während des sechswöchigen Krieges 2020 mit mehr als 6.500 Todesopfern eroberte Aserbaidschan große Teile Bergkarabachs zurück. In einem von Russland vermittelten Waffenstillstand bekam Aserbaidschan darüber hinaus Gebiete um Karabach zugesprochen, die bis dahin unter armenischer Kontrolle standen. Viele Armenier*innen waren deshalb auf ihren Präsidenten Nikol Paschinjan wütend, der den Bedingungen zugestimmt hatte – und sie sind es bis heute. Zwei Jahre später, bei den Angriffen im September, war Armeniens Schutzmacht Russland zu sehr mit ihrem eigenen Angriffskrieg in der Ukraine beschäftigt, um eingreifen zu können.
Die grundlegende Ideologie der National-Demokratischen Allianz ist, laut Varuzhan Avetisyan, Mitglied des Parteivorstands, Armenien in eine unabhängige, souveräne und freie Demokratie zu gestalten, die alle militärischen Bindungen und Abhängigkeiten von Moskau kappt und die USA, sowie die EU, als aktive Verbündete wählt.
Einige Bewohner:innen Jermuks und viele Tourist:innen hätten an diesem 13. September vorigen Jahres zunächst geglaubt, bei dem Spektakel um kurz nach Mitternacht habe es sich um Feuerwerk gehandelt. Ein Fest zu Ehren des südarmenischen Kurorts vielleicht, in dem nach zwei Jahren Corona endlich wieder Hochbetrieb herrscht, so wie in Kristina Ivanians Olympia-Sanatorium, einem mausgrauen Koloss mit 52 Zimmern.
Bald wird in dieser Nacht jedoch klar, was Ivanian schon zuvor vermutet hatte: Aserbaidschan greift armenisches Staatsgebiet an. Auch andere Regionen im Grenzgebiet stehen großflächig unter Beschuss.
„Viele Gäste haben mich gebeten, sie direkt zu evakuieren“, erzählt Ivanian zwei Monate später. Doch das sei zu gefährlich gewesen. Die ganze Nacht hätten Angestellte und Gäste im Keller ausgeharrt, konnten erst am Morgen die Stadt verlassen. Nach zwei Tagen Eskalation schwiegen die Waffen wieder. Da waren rund 300 Menschen entlang der Grenze gestorben, der Großteil von ihnen Soldaten.
Armenia, Verishen, 12.12.22:
Arman Aretunjan (44), stammt aus dem Dorf Verishen in der Nähe von Goris in Südarmenien, nahe des Lachin Korridors an der Grenze zu Berg-Karabach und ist Landwirt, sowie Vater von drei Söhnen. Während der Angriffe im September suchte seine Familie Zuflucht in einer der Berghöhlen am Rande des Dorfes.
In der Stadt Goris und den umliegenden Dörfern bewohnten Menschen bis in die 1950er Jahre natürliche Höhlen in den Bergen. Später verließen sie diese, um Häuser in deren Nähe zu bauen, und nutzten die Höhlen weiterhin, entweder für ihre Tiere und die landwirtschaftliche Arbeit oder um im Sommer der Hitze zu entkommen.
Doch im September 2022, als Goris, Verishen und viele weitere Gemeinden in der Region Syunik nahe der Grenze zu Berg-Karabach von Aserbaidschan beschossen wurden, flohen die Bewohner:innen in die Berge. Jetzt bauen sie die Höhlen zu Luftschutzbunkern aus und legen Strom- und Wasseranschlüsse an, um für den Fall eines weiteren Angriffes gerüstet zu sein.
Militärfriedhof von Jerewan. An den Gräbern der im Herbst 2023 gefallenen Soldaten wehen die Fahnen von Arzach.
Arzach – das ist Armenisch für Bergkarabach und zugleich Name der kleinen de facto Republik, die in den rund 30 Jahren ihres Bestehens von der Welt nie anerkannt wurde. Nach dem Exodus der rund 100.000 Armenier:innen im Herbst wird Arzach zum 1. Januar 2024 auch offiziell aufgelöst. Damit endet wohl gleichzeitig die Jahrhunderte alte armenische Kulturgeschichte in dem umkämpften Gebiet, in dem zwei Grundprinzipien des Völkerrechts bis zuletzt aufeinanderprallten: Das Selbstbestimmungsrecht der armenischen Mehrheit und die territorialen Unversehrtheit Aserbaidschans, dem Bergkarabach unter Sowjetherrschaft als autonome Region zugesprochen wurde.
Wenngleich die Unterstützung der Karabach-Vertriebenen seit ihrem Exodus in Armenien groß ist, stellt ihre Integration den kleinen Kaukasus-Staat mit seinen 2.8 Millionen Einwohner:innen vor eine gewaltige Aufgabe. Vor allem in Jerewan ist der Wohnraum knapp. Der Zuzug Tausender Menschen aus Russland und der überfallenen Ukraine hatte die Mieten zuletzt in die Höhe getrieben. Nun müssen auch die Karabach-Armenier:innen von Neuem anfangen, vielen fehlt die Kraft dazu.
Armenien, Tscharenzawan, 23.11.2023:
Armine Sargsyan (33) und ihr dreijähriger Sohn David. Im Hintergrund schläft ihre anderthalbjährige Tochter unter einer pinken Kuscheldecke. Als Aserbaidschan im September Sargsyans Heimatstadt Stepanakert bombardierte, habe sie ihrem Sohn erzählt, dass es nur der Regen sei, der gegen die Fensterscheibe prassele. „Bis heute hat er Angst, wenn es regnet“, sagt sie.
Wie die meisten der Vertiebenen träumt die 33-jährige davon, irgendwann nach Bergkarabach zurückzukehren. Doch unter der Kontrolle Aserbaidschans sei das nicht möglich, das Misstrauen ist nach jahrzehntelanger Feindschaft, Krieg und Blockade einfach zu groß.
In Bergkarabach hatte Sargsyan als Apothekerin und Kosmetikerin gearbeitet, ihr Mann als Automechaniker Geld verdient. Er habe bereits einen neuen Job gefunden, in Jerewan. Doch der Lohn reiche nicht für eine eigene Wohnung und erst recht nicht für Möbel, selbst mit finanzieller Hilfe. Rund 200 Euro Einmalzahlung hatte die armenische Regierung den Geflüchteten pro Person in Aussicht gestellt und 100 Euro für die ersten sechs Monate für Wohn- und Nebenkosten.
In der Polyklinik könnten sie so lange bleiben, bis Sargsyan Familie wieder auf eigene Beine komme, auch sie wolle bald wieder arbeiten und raus aus der Kleinstadt.
- MAYBE TOMORROW THERE WILL BE WAR AGAIN -
Aufgezeichnet während drei Reisen nach Armenien zwischen
25.11.-19.12.2022, 11.-17.03.2023. und 20.-25.12.2023.
Mit Texten von Anna-Theresa Bachmann
und Anita Mihaeljana.
Veröffentlicht in FAZ Magazin, Fluter, TAZ, WOZ, Ö1
© Patrick Slesiona
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